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Nähkästchengeplauder

in Sonderpädagogik on 10.04.21

Wie ich, Lou im Thermalbad die Perspektive wechseln durfte

Nach Neujahr hatte ich noch ein paar Tage frei und war zum Baden im Thermalbad. Das war natürlich vor der Pandemie … Mit mir waren dort nicht nur eine Gruppe behinderter Menschen mit ihren Betreuern, sondern noch jede Menge andere Menschen und genossen das warme Wasser, während es draußen schneite und windete. Ich saß am Beckenrand und beobachtete das Treiben im Wasser und am Rand. Es lag wohl nicht daran, dass es eine Gruppe Behinderter war, die da ins Becken kam, sondern daran, dass es eine Gruppe von 10-12 Menschen war, aber nach und nach verließ der eine oder andere, der vorher da war, das Becken. Ich blieb sitzen und ließ meinen Blick schweifen. Eine junge Frau aus der Gruppe näherte sich dem Beckenrand neben mir. Ich bemerkte es erst, als ihre Betreuerin sich zwischen sie und mich schob und ihre zu-Betreuende von mir abschirmte – oder mich von ihr? Ich hätte mir vermutlich nichts dabei gedacht, immerhin habe ich meine Erfahrungen mit meinen Schülern und weiß um Verhalten, das man Mitmenschen nicht zumuten möchte oder darf. Wenn ich nicht vor Kurzem mit Frau Beh über ihren sehr nach Geselligkeit suchenden Sohn gesprochen hätte.

Ihren Sohn lernte ich als 17jährigen jungen Mann kennen. Er ist sehr sozial, geht schnell auf Menschen in seinem Umfeld zu, bevorzugt auf nicht-behinderte Menschen. Ich vermute er hat in den vielen Jahren, die er nun in der Einrichtung lebt und lernt, gelernt, dass seine Mitbewohner und Mitschüler nicht so auf ihn reagieren, wie er das braucht. Nämlich auf ihn bezogen, aktiv, kommunikativ, interaktiv, humorvoll und vor allem auch flexibel und offen. Auch wenn wir draußen unterwegs sind geht der junge Mann auf Menschen zu. Anfangs war ich unsicher, wie ich damit umgehen sollte. Der junge Mann ist nicht distanzlos, aber sehr direkt. Er geht auf Menschen zu, die eigentlich einfach nur am Vorbeilaufen sind, und reicht ihnen die Hand. Er kann nicht sprechen. Wenn er es könnte würde er so was sagen wie „Hey, na?!!! Du bist mir aufgefallen weil du so entspannt wirkst/so nett lachst/so beschäftigt bist/… Wie geht es dir? Was machst du? Wo kommst du her? Wo gehst du hin? Was hast du da in deinem Korb? Ist das ein neues Buch? Was liest du gerade? …“ Er kann keinen Smalltalk machen, er kann nicht tiefere Gespräche führen, er kann keine passende Situation abwarten, bis es nach unseren Maßstäben angebracht ist mit Menschen tiefere Gespräche zu führen und und und. Aber er liebt den Kontakt mit Menschen, die auf ihn reagieren können.

Ich dachte also anfangs ich müsste ihm beibringen zu unterscheiden zwischen Situationen, in denen man jemandem die Hand gibt (persönliche Treffen, die zu einem tieferen Gespräch führen könnten zum Beispiel. Aber wann finden diese denn für diesen jungen Mann statt???) und wann man nur im Vorbeigehen jemanden nett anlächelt oder einfach nur „Guten Tag“ sagt. Seine Mutter, die den jungen Mann ja nun mal viel besser kennt als ich, erzählte mir dann, wie sie damit umgeht: Sie lässt sowohl ihrem Sohn als auch seinem Umfeld die Möglichkeit, Kontakt zueinander aufzunehmen. Da in der Regel die Mitmenschen keinen Kontakt zu ihm aufnehmen hat er Glück ein so offener und sozialer Mensch zu sein, der keine Hemmungen hat Kontakt aufzunehmen. Sie lässt ihn auf die Menschen zugehen, sie mit einem Handschlag begrüßen und sie erwartungsfroh, neugierig, offen, interessiert, freundlich oder einfach nur wohlwollend anschauen. Sie lässt den Menschen aber auch die Möglichkeit ihren Sohn als eigenständige Person wahrzunehmen, jemand der aktiv ist und interaktiv. Sie lässt den Menschen die Möglichkeit sich auf ihren Sohn einzulassen, auf ihn zu reagieren, mit ihm zu reden oder auch ihn stehen zu lassen. Sie lässt beiden Erfahrungsspielräume und Chancen, beiden lässt sie die Möglichkeit sich ganz persönlich und individuell einzubringen. Nur wenn sie Überforderung oder allzu große Unsicherheit bei den Mitmenschen bemerkt mischt sie sich ein. Dann hilft sie mehr den Menschen als ihrem Sohn. Er kann ja auch nicht sprechen und braucht auch Hilfe, wenn er etwas gefragt wird. Aber die Passanten brauchen manchmal auch Hilfe Worte zu finden oder sich abzugrenzen.

Ich habe mir dies zum Vorbild genommen. Nicht zuletzt weil ich glaube, dass das Inklusion ist. Wir versuchen künstlich Begegnungen zu schaffen, Kontakte zwischen unseren Schülern und nicht-Behinderten herzustellen und ihnen (beiden Parteien) Chancen zu bieten sich kennen zu lernen. Aber natürlich soll dies nicht passieren dürfen? Wovor hatte ich Angst?

Ich weiß wohl um die Absichten der Betreuerin im Thermalbad. Sie wollte mich nicht in Verlegenheit oder in eine unsichere Gefühlslage bringen oder sie wollte mich einfach schützen, weil die junge Frau vielleicht Verhaltensweisen an den Tag legt, die mir oder ihr schaden können. Das weiß ich natürlich nicht. Ich hätte nur gerne die Gelegenheit gehabt, der jungen Frau zu begegnen und ein Teil ihrer Welt sein zu können, wie sie ein Teil meiner Welt hätte werden können – wenn auch nur für 5 Minuten im Thermalbad. Ich wünschte mir mehr Mut für mich und all die Betreuer und mehr Vertrauen in die zu-Betreuenden und in die Mitmenschen.

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