Wenn Zuschreibungen helfen – eine höchst subjektive Sichtweise
in Schule, Sonderpädagogik on 14.05.21Das Mädchen fiel mir auf, als wir ihr einen neuen Sitzplatz anboten, damit sie sich besser auf den Unterricht einlassen konnte. Sie ließ sich nämlich immer sehr leicht ablenken von ihrer Sitznachbarin. Sie hatte sehr große Schwierigkeiten mit dem neuen Platz, wollte sich nicht daran gewöhnen. Übergänge von der freien Arbeit in den Morgenkreis fielen ihr im Alltag sehr schwer – sie wollte gerne ihre Tätigkeit fortsetzen und verteidigte ihre Arbeit vehement. Materialwechsel mochte sie auch nicht besonders und konnte sehr „besitzergreifend“ sein. Und sie gewöhnte sich einen völlig akzeptablen, aber starren Ablauf morgens an. Sie spricht schwer verständlich und wenig funktional. Fragt man sie etwas, antwortet sie in ihrem Lieblingsthema „Wetter“ oder „Gefühle“. Sie liebt Piktogramme. Als von einer Kollegin der Kommentar: „Downie-Bock halt“ kam, als das Mädchen nicht dazu zu bewegen war, sich im Gruppengeschehen „mitzubewegen“, wurde ich aufmerksam. Die Erklärung „sie ist halt stur“ oder im „besten“ Falle „faul“ höre ich im Allgemeinen ungern. Mir ist das zu oberflächlich, zu einfach, zu eindimensional. Einem anderen Mitschüler wird kein „Bock“ unterstellt und er wird auch nicht als „faul“ oder „träge“ bezeichnet. Er hat eine Diagnose auf dem Autismusspektrum. Und als ich das Verhalten der beiden Schüler so nebeneinander betrachtete, erinnerte ich mich, irgendwann von der Doppeldiagnose Down-Syndrom und Autismus-Spektrum-Störung gelesen zu haben. Damals hieß die Diagnose noch frühkindlicher, atypischer oder Asperger-Autismus. Ist also schon eine Weile her und ich hatte das Thema nie weiterverfolgt.
Das Internet gibt leider nicht sehr viel her. Ich fand nun einen Artikel von George T. Capone vom Kennedy-Krieger-Institut (Baltimore, USA), den es hier auf Deutsch übersetzt zu lesen gibt. Capone untersuchte 30 Kinder mit DS-ASS, heißt: Down-Syndrom in Verbindung mit Autismus-Spektrum-Störung.
Ich fragte mich bei der Beobachtung des Mädchens, ob es denn wichtig sei eine zusätzliche Diagnose zum Down-Syndrom zu haben und kam zu dem Ergebnis: „Nein.“ Für die Familie scheint das Verhalten des Mädchens kein Problem darzustellen und auch in der Schule würde eine Diagnose nicht helfen. Wohl aber Strategien, die ich mir aus Interventionen für Schüler mit ASS entnahm. Ein Beispiel möchte ich nennen. Das Mädchen hatte große Schwierigkeiten sich das Essen für den Vormittag und den Nachmittag einzuteilen und reagierte extrem emotional darauf, wenn ich ihr einen Teil des Essens wegnahm und beiseitestellte um zu verhindern, dass sie alles aufessen würde. Zeigte ich ihr aber die eine Portion in Verbindung mit einem Piktogramm für „jetzt“ und die andere mit einem Piktogramm für „später“ konnte ich die Nachmittagsration problemlos beiseitelegen. Die Diagnose ist nicht nötig, aber Ideen einer Erklärung für Verhalten hilfreich. Capone formuliert es so: „Eine formelle Diagnose (berechtigt) das Kind zu einem mehr fachbezogenen und effektiveren Unterrichten und Intervention.“ Ich würde sagen: Das Wissen um mögliche Erklärungen für Verhalten erweitert das Handlungsspektrum immens.
Schätzungen zufolge haben zwischen 1 und 10% aller Menschen mit Down-Syndrom auch eine Autismus-Spektrum-Störung. Genaue Zahlen gibt es wegen „Unstimmigkeiten über die Diagnosekriterien“ und „nur unvollständige(r) Dokumentation“ nicht. Capone schreibt: „Ich glaube das 5–7% eine genauere Schätzung abgibt. Das ist wesentlich höher als in der Allgemeinbevölkerung beobachtet (.04%) und niedriger als andere Gruppen von Kindern mit Lernbehinderungen (20%).“ Ob „glauben“ so ein vertrauenerweckendes Verb ist, in diesem Zusammenhang? Der Autor erklärt auch, die ASS käme meist bei kognitiv stark eingeschränkten Menschen mit Down-Syndrom vor. Dies soll dann wiederum auch das Problem bei der Diagnose sein. Die Fachleute verweisen dann oft auf typisches Verhalten von „`geringfunktionierendem` Down-Syndrom“. Ein Teufelskreis, wo dem einen oder anderen Elternteil eine Diagnose doch Erleichterung bringen würde, weil es eine Erklärung gäbe, die außerhalb ihres Verantwortungsbereiches liegt.
Capone beschreibt bei Kindern mit Down-Syndrom und ASS folgendes Verhalten oder Auffälligkeiten:
- Entwicklungsrückschritte, Verlust von Sprache und sozialen Fähigkeiten
- Schwache Kommunikationsfähigkeit (keine funktionale Kommunikation)
- Autoaggressives Verhalten
- Stereotypien
- „ungewöhnliche Laute“ und „ungewöhnliche Sinneswahrnehmung“
- Verweigerung von Nahrungsmitteln bzw. Schwierigkeiten bei der Nahrungsaufnahme
- „Angst, Reizbarkeit, Schwierigkeit mit Veränderungen, Hyperaktivität, Aufmerksamkeitsdefizite und erhebliche Schlafstörungen.“
- „weniger Beeinträchtigung im sozialen Umgang als Kinder die nur ASS haben“
- „mehr Vertiefung in Bewegungen des Körpers und dem Gebrauch von Gegenständen als Kinder, die nur ASS haben.“
Einen weiteren Artikel zu dem Thema verfasste Barbara Jeltsch-Schudel unter Mitarbeit von Andrea Kühne – „eine Fachfrau und eine betroffene Mutter aus der Schweiz“ 2003. Hier wird der Begriff Down-Syndrom-Plus eingeführt, der erschwerende Faktoren wie z.B. Sinnesbeeinträchtigungen, Herzfehler oder eben die Autismus-Spektrum-Störung einbezieht. In dem Artikel geht es schwerpunktmäßig um das Down-Syndrom in Verbindung mit der ASS. Zur damaligen Zeit, so benennen die Autorinnen, haben Fachpersonal wie Pädagogen und Therapeuten das Thema noch wenig auf dem Schirm. Die Studien, die es zu der Thematik gibt „enthalten vor allem deskriptives Material, das heißt, es können noch wenige Zusammenhänge, geschweige denn Erklärungsansätze formuliert werden“. Ist das heute anders? Ich persönlich finde, es macht einen großen Unterschied, ob man einem Kind einen „Downie-Bock“ unterstellt – wobei ich das so oder so unfair finde – oder ob ich in Betracht ziehe, das verweigernde Verhalten könne seine berechtigten Gründe haben. Ob diese berechtigten Gründe nun mit einem schwachen Muskeltonus oder mit einer ASS zu tun haben ist ja erstmal einerlei. Aber das Wissen um erschwerende Faktoren ist wichtig um dem Kind gerecht zu werden und das Umfeld entsprechend gestalten zu können.
Frau Kühne berichtet von ihrem Sohn Fabio, der ihr unter anderem durch eigenartige Laute und stereotype Bewegungen auffiel. Seine Entwicklung verlief wesentlich langsamer und völlig anders als die, anderer Kinder mit Down-Syndrom. Sie erzählt von einem Arzt, der ihr erklärte, ihr Sohn sei einfach „schwerer behindert“ und die Lehrer bestätigten dies. Die Mutter beschreibt ihre Erleichterung, nachdem ihr Sohn Fabio die Doppeldiagnose erhalten hat. Die Erleichterung bezog sich nicht nur auf die Tatsache bei der Erziehung und Förderung ihres Kindes nicht versagt zu haben, sondern auch darauf, dass nun Therapeuten und Pädagogen andere Anhaltspunkte hatten um mit dem Jungen umzugehen und zu arbeiten – angefangen bei einer 1:1-Betreuung in der Schule und zusätzliche Maßnahmen zur Kommunikationsförderung. Sie nennt hier PECS. Mit dem Satz „Die Vorstellungen über die künftige Entwicklung Fabios können realistischer (aber nicht pessimistischer!) antizipiert werden.“ könnten die Vorteile einer Diagnose zusammengefasst werden. Als Nachteile einer doppelten Diagnose werden die Stigmatisierung und der Pygmalion-Effekt genannt, also die Anpassung von erbrachten Leistungen an die Erwartungen, die an einen Menschen gestellt werden. Ich weiß nicht, wie es anderen Lesern geht, aber in meinem Fall glaube ich fast, dass dieser Effekt im Zusammenhang mit Autismus eher positive Auswirkungen haben könnte, denn bei einem Autismus gehe ich oft davon aus, dass unter der Oberfläche Potentiale stecken, die nicht zum Vorschein kommen können weil das Umfeld nicht passend ist. Autismus sehe ich stark als systemisches Problem. Aber das mag sehr persönlich sein. Und vor allem mag mich das anregen auch hinsichtlich dem Down-Syndrom noch systemischer zu denken. Aber auch die Verunsicherung durch eine zweite Diagnose kann ein Nachteil sein und alles nur noch komplizierter machen, als es eh schon ist.
Ich meine, das Wissen um die Möglichkeit einer weiteren Diagnose oder erschwerende Bedingungen, die in einer Diagnose begründet liegen können, kann uns und den Kindern nur helfen. Darum schreibe ich diese Zeilen.
Ich wünsche euch viel Spaß beim Stöbern im Netz zu diesem Thema.